Editorial

Wohl jeder Jurist kennt Kants Satz, dass die einfache Frage »Was ist Recht?« den »Rechtsgelehrten […] in Verlegenheit« setze. Höchstens »[w]as Rechtens sei (quid sit iuris), d. i. was die Gesetze an einem gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben«, schloss Kant an, könne dieser »noch wohl angeben «. Selbst das ist, wie wir inzwischen wissen, mindestens sehr optimistisch formuliert: Denn »Rechtens« war eben nicht nur, »was die Gesetze« sagten. Und obwohl vor allem deutsche Gelehrte seit Jahrzehnten beträchtliche intellektuelle Energie auf die Erforschung »des Rechtsbegriffs« verschiedener historischer Situationen verwenden, erscheinen die Grundbegriffe von »Recht« einem geschulten Beobachter immer noch »viel weniger historisch durchgearbeitet als ›Staat‹«.
Uns schien dies Grund genug, um eine im Rahmen des von der Frankfurter Goethe Universität und dem Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte gemeinsam getragenen Graduiertenkollegs geführte Debatte um diese Fragen zu unserer zu machen. Gerhard Dilcher, der Initiator, führt in sie ein. Der einzige nicht aus dem deutschen Sprachraum stammende Teilnehmer, Dirk Heirbaut, bezeichnet diese Forschungstradition in einem zusammenfassenden Überblick als einen unknown treasure for historians of early medieval Europe – eine zugleich erfreuliche und beunruhigende Feststellung. Sie dürfte auch auf die Diskussionen um den »Staat« im frühen Mittelalter zutreffen, wie sich an dem Literaturbericht von Christoph H. F. Meyer am Beginn der Kritik zeigt. Auch hier hat es die deutschsprachige Forschung inzwischen nicht leicht, rezipiert zu werden, zumal »Staat« eben nicht gleich »state« ist.
Was liest man denn in der englisch sprechenden Welt aus der deutschsprachigen rechtshistorischen Forschung überhaupt? – Das Erscheinen der The Oxford International Encyclopedia of Legal History aus dem Jahr 2009 war uns willkommener Anlass, auf einem workshop im Institut über das Bild zu sprechen, das einer Leserin oder einem Leser in Amerika oder in Asien (dies dürfte der anvisierte Markt der Encyclopedia sein) von der Rechtsgeschichte vermittelt wird. Einige von uns hatten selbst mit Beiträgen mitgewirkt, auch ich, und verdiente Rechtshistoriker haben viel Mühe darauf verwandt, Autorinnen und Autoren für einen Artikel zu gewinnen.Was als Gesamtwerk daraus geworden ist, ist problematisch. Ökonomisierung und Amerikanisierung verbessern offenbar doch nicht zwangsläufig den wissenschaftlichen output. Douglas Osler hat den Stift gespitzt und zugestochen.
Auch die anderen Beiträge lassen sich als Beobachtungen der Wissenschaft lesen. In der Recherche nimmt Enrique Álvarez Cora den 40. Geburtstag von Francisco Tomás y Valientes bahnbrechendem Buch zur Geschichte des Strafrechts im Spanien der Habsburger und Bourbonen zum Anlass, dessen Sicht auf das Verhältnis von Delikt und Sünde im Denken der wohl nur aus ihrer Verankerung in der Theologie zu verstehenden frühneuzeitlichen Autoren zu hinterfragen, und Anna-Bettina Kaiser historisiert die Debatte um den Begriff der Regulierung im Staats- und Verwaltungsrecht der Bonner Republik. Beide Themen berühren, wie auch die Debatte, eine Reihe von Forschungsprojekten in den neu gefassten Forschungsschwerpunkten des Instituts: »Recht als Zivilisationsfaktor im ersten Jahrtausend«, »Recht und Religion«, »Strafrechtsgeschichte und historische Kriminalitätsforschung in Europa zwischen Mittelalter und Moderne« sowie »Moderne Regulierungsregime«. Mehr über diese Forschungsschwerpunkte ist auf unserer homepage zu lesen, die eine neue Internet-Adresse hat: www.rg.mpg.de
Am Schluss des Hefts drucken wir als Marginalie einige biografische Skizzen ab, die Raoul C. Van Caenegem uns zur Verfügung gestellt hat – persönliche Erinnerungen, eine Quelle für die Geschichte der Rechtsgeschichte und ihr Selbstbild. Elmar Lixenfeld hat Van Caenegems Lebensbilder in Zeichnungen umgesetzt. So entstand die im Heft verstreute kleine Galerie von Gesichtern einer inzwischen fremd anmutenden akademischen Welt.

Thomas Duve

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